Schlagwort: Brasilien

  • Ein Toter und niemand schreit

    gestern nacht bin ich ein paar bier trinken gegangen in lapa, dem fortgehviertel hier ums eck. so um vier uhr früh liegt da ein typ auf der straße, ungefähr 25, in einer großen blutlache. in einem kreis rundherum stehen leute, ganz nahe und fast bewegungslos. nichts passiert. er ist tot, er liegt da und ist tot, vor ein paar minuten muss er noch gelebt haben. erschossen oder erstochen, keine ahnung. die leute, viele leute stehen herum und nichts passiert. ich gehe weiter, will nach hause. wie die anderen wahrscheinlich auch bin ich froh dass nicht ich da liege.

    nach einer halben stunde komme ich wieder zurück und der tote liegt immer noch da, in seiner blutlache. jemand hat einen müllsack über sein gesicht gelegt und einen auf seinen bauch, die müllsäcke sind viel zu klein um den ganzen körper zu bedecken. noch immer stehen leute herum und nichts geschieht. warum hält die welt nicht den atem an, warum schreit niemand vor verzweiflung, warum kommt keine polizei, warum bleibt alles wie es ist?

    marco, mein mitbewohner, ist heute um zehn uhr vormittag dort vorbeigegangen. der tote lag immer noch dort, müllsack am kopf, allein. es macht eine furchtbare angst, wenn da niemand schreit vor verzweiflung.

  • Tranquilidade 2

    João Pessoa ist die zu Unrecht relativ unbekannte Hauptstadt des zu Unrecht relativ unbekannten Bundesstaates Paraíba. Der Name stammt von João Pessoa Cavalcanti de Albuquerque, hiesiger Gouverneur der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der sich mit den Worten „Nego!“ („ich bin dagegen“) gegen einen korrupten Deal des damaligen Praesidenten Washington (Luiz, nicht George) aufgelehnt hatte. Seitdem ziert das Wort NEGO die schwarz-rote Fahne Paraíbas, was irgendwie sympathisch ist (wenn man davon absieht, dass Pessoa danach Vizepraesident unter Diktator Getúlio Vargas wurde).

    Sonst ist João Pessoa die oestlichste und gruenste Stadt Amerikas. Ausser sehr geilem Forró ist wenig los hier, was auch irgendwie sympathisch ist. Dafuer hab ich noch nie so viele Kliniken, Gesundheitszentren und Krankenschwesternschulen gesehen. Jedes zweite Haus ist eine Ordination.

    Ich geh in die von einem Ophtalmologen (um auch dieses schoene Wort mal vorgestellt zu haben), weil ich seit zwei Wochen virale Konjunktivitis habe (Bindehautentzuendung, falls das wen interessiert) und schon fast nix mehr sehe. Er erkennt mithilfe modernster Apparaturen ein Herpesvirus (zusaetzlich zur Konjunktivitis, die auf Portugiesisch praktischerweise Conjuntivite heisst) und verschreibt mir ein Medikament eines multinationalen Pharmakonzerns, der im Schwarzbuch Markenfirmen voellig zurecht schwerster Menschenrechtsverletzungen bezichtigt wird, und siehe da, siehe da: ich sehe! Ok, ich gebe zu, mein Mitteilungsbeduerfnis schiesst gerade uebers Ziel hinaus, aber Konjuntivitis ist echt Scheisse.

  • Tranquilidade

    Natal ist die Hauptstadt von Rio Grande do Norte. Es gibt dort eigentlich nix, ausser Direktfluege von Europa, weshalb der Sextourismus blueht (blueht? welkt?). Vor ein paar Tagen haben sie zwei Spanier verhaftet, weil sie mit 17jaehrigen aufs Zimmer gegangen sind. Zeitungen, Kirche und Politik beklagen genuesslich den moralischen Verfall. Ueber die oekonomischen Ursachen, die die Maedels, meist junge Muetter, auf die Strasse treiben, verlieren sie kein Wort. Viel verdraengte Traurigkeit allerseits.

    Suedlich von Natal weicht die Tristeza der Tranquilidade. In Pirangi waechst der weltgroesste Cajú-Baum mit 10.000 m² Grundflaeche. Einmal Rundherumgehen sind 2,5 Kilometer! Noch weiter suedlich ist Pipa, da schwimmen die Delphine fast bis ans Ufer. Ich geh am Strand entlang und erreiche nach drei Stunden das Dorf Sibaúma, das vor Jahrhunderten von afrikanischen SklavInnen gegruendet wurde, die aus Angola versschleppt wurden und das Schiff gekapert haben.

    Das Dorf mit seinen etwa hundert kleinen Huetten erinnert mich an Mosambik. Gleich beim Ortseingang bittet mich ein aelterer Herr in seine Huette aus rotem Lehm. Es gibt nur einen Raum, dessen Waende mit schoenen Meerestiermotiven bemalt sind.

    Das Dorf ist der Frieden selbst. Kinder spielen auf der Strasse, freundliche Menschen rufen sich gegenseitig und auch mir freundliche Dinge zu, fahren Fahrrad und reiten kleine Pferde. Wenige Autos, weisser Sandstrand und Kokospalmen. Wenn ich mal auf Internet und den restlichen Halligalli verzichten kann, will ich hier leben. Es gibt kein Restaurant, nur einen kleinen Kiosk mit frischem Kokoswasser, Fleischbaellchen und Kuchen fuer insgesamt 30 Cent. Nach Pipa zurueck fuehrt nur der Schulbus.

    Beim Einsteigen steckt mir ein Maedchen einen Zettel mit einer Telefonnummer zu: „Das ist von Alina.“ Ich bitte den Busfahrer zu warten, soviel Zeit muss sein, gehe zurueck zum Kiosk, doch Alina fluechtet. Naja, vielleicht beim Naechstenmal.

  • Besetzt

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    In Brasilien gibt es nicht nur Land-, sondern auch Hausbesetzungen. Sogar im Stadtzentrum von Rio sind vier Häuser besetzt. Eines davon haben wir heute besucht. Es gehört ausgerechnet der Landreformbehörde INCRA und steht seit 20 Jahren leer. In der Nacht auf den 23. Juli wurde es von 60 obdachlosen Familien in Besitz genommen. Die Incra fordert das Gebäude zurück, noch ist der Prozess im Gange. Die brasilianische Verfassung verpflichtet Grund- und HausbesitzerInnen zur Nutzung ihres Eigentums. Präsident Lula hat noch im Wahlkampf dazu aufgefordert, leerstehende Häuser zu besetzen. Nach offiziellen Angaben gibt es in ganz Brasilien 6,5 Millionen obdachlose Familien und fünf Millionen ungenutzte Immobilien. Doch von Regierungsseite gibt es keine Unterstützung.

    Den HausbesetzerInnen geht um mehr als eine Wohnung: Sie arbeiten mit der Uni zusammen, um Müllrecyclingprojekte ins Leben zu rufen und damit Geld zu verdienen, erzählt der 39jährige Maciel Silva dos Santos. Er ist vor Jahren aus Pernambuco nach Rio zugewandert und lebte bis Juli auf der Straße. „Es gibt Studien, denen zufolge Rio jährlich 600 Millionen Reais (170 Mio. €) mit der Wiederverwertung von Abfällen einsparen und 25.000 Menschen beschäftigen könnte“, behauptet Maciel.

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    Die BewohnerInnen haben sich strenge Regeln nach anarchistischen Prinzipien auferlegt: Wichtige Entscheidungen werden in wöchentlich stattfindenden Versammlungen getroffen. Dort werden auch Konflikte geregelt. Alkohol und andere Drogen sind im Haus verboten. Alle Arbeiten am Haus, Ver- und Entsorgung, Essen, Kinderbetreuung etc. werden solidarisch organisiert. Jede/r stellt wöchentlich 20 Arbeitsstunden zur Verfügung, wer Geld verdient leistet einen Solidarbeitrag. Bis jetzt scheint das zu funktionieren, die Stimmung ist gut, aber es sind auch schon Mitbewohner wegen asozialen Verhaltens rausgeflogen.

  • Gangan ruht sich aus

    Gestern früh wurde ich wieder mal von heftigen Maschinengewehrsalven geweckt. Die Drogenbanden ballern hier oft mit schwerem Gerät, das aus Militärbeständen stammt, von einem Hügel zum anderen. Häufig nur, um ihre Macht zu demonstrieren. Gestern aber war die Polizei am Hügel gegenüber und hat Irapuan David Lopes, genannt Gangan, erschossen.

    Der Drogenboss, der von den heutigen Zeitungen als größter Feind Rios bezeichnet wird, beherrschte den Handel in zehn Favelas und belieferte darüber hinaus die zwei größten, Rocinha und Vidigal. Der 34jährige begann mit 14 Jahren zu dealen. Er verdiente mindestens 600.000 Euro im Monat und unterhielt einen Harem von kolportierten 200 Frauen. Als während des Geburtstagsfestes eines seiner Söhne ein Motorrad Lärm erregte, exekutierte er den Fahrer. Wegen eines Missverständnisses mit der Müllabfuhr ließ er ein Verwaltungsgebäude der Stadt mit Maschinengewehren beschießen. Im Mai erschoss er einen 14jährigen, weil ihm danach war. Vor zwei Monaten vierteilte er einen verfeindeten Dealer mit der Motorsäge. Und zu seinem eigenen Geburtstag am 2. November tötete er angeblich regelmäßig jemanden und trank dessen Blut. Steht in der Zeitung.

    Gleichzeitig versorgte er bedürftige Familien seiner Favela mit Grundnahrungsmitteln, ließ für gemeinützige Feste Brauerei-LKWs überfallen und verteilte noch am Wochenende Geschenke zum Internationalen Tag des Kindes. Wenn er schwer bewaffnet in den Kampf gegen verfeindete Drogenbanden oder die Polizei zog, sagte er: „Ein Krieger stirbt nicht, er ruht sich aus.“

    Seit gestern ruht sich Gangan aus. Er wurde im Bett mit einer blonden Frau von der Polizei überrascht, flüchtete, schoss auf die Polizisten und wurde von mehreren Kugeln getroffen. Im ganzen Viertel blieben seitdem Schulen und Geschäfte geschlossen, weil Gangans Leute Trauer angeordnet haben.

    Im britischen Independent erschien vorgestern ein übersichtlicher Artikel über Rio, The city of cocaine and carnage, den die politisch Verantwortlichen entrüstet als einseitig und übertrieben zurückweisen. Sie leben nämlich ganz gut mit dieser Art Public-Private-Partnership: Politische Eliten und Drogenwirtschaft sichern sich gegenseitig die Macht, indem sie durch den Krieg eine Situation der Instabilität aufrecht erhalten.

    Während ich diese Zeilen schreibe, schießen sie gegenüber schon wieder. Sie kämpfen um Gangans Nachfolge.

  • Masters of Ceremony

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    Wer „8 miles“ mit Eminem gesehen hat, weiß was ein MC Battle ist: Zwei Rapper reimen zu fetten Beats um die Wette, das Publikum bestimmt den Sieger per Gebrüll. Star bei der Liga dos MCs im Teatro Rival im Zentrum von Rio war gestern DJ Negralha (Foto), der über das Leben in der Favela improvisierte.

    Zur Eintrittskarte gab’s gratis eine Packung Heftpflaster in zwei verschiedenen Brauntönen: Weil Konsumprodukte so gut wie selbstverständlich für Weiße designt sind – zum Beispiel als rosafarbene Hautpflaster – versuchen Schwarze dem selbstbestimmte Lebensstile entgegen zu setzen: Schwarze Musik, Mode, Zeitschriften, Spielzeugpuppen und nun eben auch Pflaster.

  • Wahlqual

    am sonntag wird in brasilien kommunalgewaehlt. fuer die regierung ist vor allem das ergebnis in são paulo von bedeutung, wo die kandidatin von lulas arbeiterpartei PT, marta suplicy, und josé serra vom sozialdemokratischen (neoliberalen) PSDB in den umfragen bei jeweils 35 prozent liegen.

    waehrend die paulistas gerne abwechslung haben (was gegen buergermeisterin suplicy spricht), setzen die cariocas tendenziell auf bewaehrtes, auch wenn sich rios favorit cesar maia vom rechtsliberalen PFL lediglich durch autoritaritarismus bewaehrt hat. so wollte er vor wenigen monaten eine mauer (ja, sowas wie in berlin oder palaestina) rund um die favela rocinha errichten lassen, um die angrenzenden wohlstandsviertel vor der ausufernden kriminalitaet zu schuetzen.

    die anderen kandidaten sind aber auch nicht viel toller: der in den umfragen zweitplatzierte crivella ist prediger der erzkonservativen, evangelikalen freikirche „igreja universal“. und die linken parteien grundeln bei fuenf prozent herum.

    dafuer gestaltet sich der wahlkampf fantasievoll: durch alle strassen touren lautsprecherlaster und bruellen uns die nummern von mandatarinnen hinterer listenplaetze entgegen: „quatorze-sete-sete-sete, quatorze-sete-sete-sete“ (14777, fehlt nur noch das „ruf mich an!“).

    dazwischen faehrt ein als weihnachtsschlitten verkleideter vw kaefer (mit plastikweihnachstmann und plastikelchen) und wirbt fuer einen anderen kandidaten, der „amor, paz e dinheiro“ verspricht. gewaehlt!

  • Wieder ein Drogen-Robin-Hood getoetet

    In Rio wurde heute der 59jaehrige ehemalige Drogenboss Jose Carlos dos Reis Encina getoetet, der vor allem fuer seine spektakulaeren Ausbrueche beruehmt war. Zuletzt fuehrte er – vom Gefaengnis aus – eines der groessten Taxiunternehmen Rios und galt so wie der im Maerz von Polizisten getoetete Lulu als Robin Hood der Armen, weil er einen Grossteil der Drogeneinnahmen in Sozialprojekte investierte.

  • Chirac prophezeit Rebellion der Armen

    Brasiliens Praesident Luiz Inácio Lula da Silva schlug gestern in New York gemeinsam mit den Regierungschefs von Chile, Frankreich und Spanien die Einfuehrung einer internationalen Steuer auf Finanztransaktionen zugunsten der Armutsbekaempfung vor.

    Sogar Frankreichs konservativer Praesident Jaques Chirac verteidigte den Vorschlag gegen die USA mit dem Hinweis, dass bereits mehr als hundert Laender fuer die Einfuehrung einer solchen Steuer seien. Chiracs denkwuerdige Warnung: „Der Lohn für Selbstsucht ist Rebellion.“

    Auch der Vorschlag einer Steuer auf internationalen Waffenhandel stiess auf den Widerstand der Vereinigten Staaten. Lulas Seitenhieb auf die US-Regierung: „Hunger ist die gefaehrlichste Massenvernichtungswaffe der Welt.“

  • Anstandsfragen

    Letzte Woche verabschiedete das brasilianische Parlament zwei Gesetzesnovellen, die den Weg ins 21. Jahrhundert weisen: Erstens wird Ehebruch nicht mehr als kriminelle Handlung angesehen.

    Dafuer ist zweitens in Hinkunft Sex „mittels Betrug“ generell ein Verbrechen und nicht nur (wie bisher laut Gesetz), wenn er mit einer „anstaendigen Frau“ veruebt wurde. (Oja, Sex kann auch veruebt werden…)

    Nicht novelliert wurde hingegen jene Passage, die die Entfuehrung von Frauen betrifft. Ihr zufolge verringert sich die Strafe um ein Drittel, „wenn die Entfuehrung zum Zwecke der Heirat erfolgte, und um die Haelfte, wenn der Taeter das Opfer freilaesst oder an einen sicheren Ort in Verfuegung der Familie bringt, ohne mit ihr irgendeinen libidinoesen Akt praktiziert zu haben.“

    Und jetzt darf man nicht einmal mehr unanstaendige Frauen entfuehren.