Schlagwort: Brasilien

  • Warum ich im Moment keine Emails beantworte

    Ueber der Strasse vor meinem Haus spinnt sich ein Netz aus Kabeln: Strom-, Telefon- und die Signalleitung der Strassenbahn sind unuebersichtlich ineinander verquirlt. Da ist es leicht, den Ueberblick zu verlieren.

    Seit einigen Tagen telefoniert wer anderer auf meiner Leitung. Oder niemand. Ich jedenfalls nicht. Irgendein Techniker der brasilianischen Telefongesellschaft Telemar hat den Ueberblick im Kabelsalat verloren, und seitdem ist mein Telefon tot – und ebenso mein Internetzugang. Bloed, dass ich gerade jetzt dringend fuer ein Buchprojekt recherchieren muesste.

    Mich wegen sowas zu stressen hab ich mir inzwischen abgewoehnt. Was mich aber wahnsinnig macht, ist die Macht, die so ein Telefonkonzern ueber meinen Alltag hat. Die lähmende Macht der Matrix. Zuerst ist die Hotline einen halben Tag besetzt. Dann kommuniziere ich zehn Minuten lang mit einer Maschine („wenn Sie ein Problem haben druecken Sie die 2, wenn Sie diese Frage noch einmal hoeren wollen druecken Sie die 3, wenn Sie nicht mehr koennen legen Sie einfach auf“). Dann befiehlt mir die automatische Stimme, von morgen 9h58 bis uebermorgen 9h58 zu Hause zu bleiben und auf den Techniker zu warten („wenn Sie wollen, dass der Techniker erst in drei Monaten kommt, bitte schoen, dann druecken Sie halt die 4“). Gegen Ende der brav zu Hause verbrachten Zeit (endlich wieder mal Buecher lesen, endlich wieder mal selber kochen!) kommt der Techniker, steht ratlos vor dem Kabelsalat, kratzt sich am Kopf und sagt, das koenne nur der loesen, der das da verbrochen hat. Der wuerde in einer Stunde kommen. Einen halben Tag spaeter krieg ich einen Anruf von der Telemar dass jetzt der Techniker kommt. Am nächsten Vormittag kommt tatsaechlich ein Techniker, steht ratlos vor dem Kabelsalat, kratzt sich am Kopf und sagt, das koenne nur der Supervisor loesen. Der wuerde vermutlich noch heute abend kommen. Das war gestern. Heute hab ich bei der Telemar mittels der Tastenkombination 3-3-4-7-1-3-5 („wenn Sie eine Frage haben, die nichts mit Ihrem Problem zu tun hat“) erstmals eine menschliche Stimme erreicht.

    Ich bin grundsaetzlich dagegen, die Sklavinnen von Grosskonzernen zu beschimpfen. Aber manchmal kann ich nicht anders. Abgesehen davon, dass die Telefonsklavinnen wahrscheinlich eh Party haben, wenn ich auf Portugiesisch loslege. Ich sag dann Dinge wie „Und richten Sie dem gefickten Hurensohn von Geschaeftsfuehrer aus, dass ich ihm demnaechst in seinen Swimmingpool pisse“ oder „Die Scheissaktionaere der Telemar sollen mal sehen wie es ist bei Regen den Bus zu versaeumen“. Aber hallo! Nicht mit mir! Die nehmen das übrigens auf Tonband auf, bei der Telemar („wir weisen Sie darauf hin, dass wir Ihren Anruf aus Sicherheitsgründen aufnehmen“). Ich hätt davon gern ein Best of.

    Inzwischen warte ich auf den technischen Supervisor und bitte um Verstaendnis, dass ich im Moment keine Emails beantworte.

  • Weltsozialforum 2

    Jetzt ist es tatsaechlich aus, und ich hab wieder mal fast nix mitgekriegt. Die Hitze ist moerderisch, aerger noch als in Rio. Es waren mehr Leute als 2003, und gewiss sind tausende Initiativen betreffs Weltverbesserung entstanden. Das ist gut so, nur hab ich wieder mal fast nix mitgekriegt, weil einfach alles viel zu schnell geht. José Saramago hat den Vorschlag fuer ein permanentes Weltsozialforum gemacht. Ob das das Gefuehl mindern wuerde, dauernd was zu versaeumen?

    Gestern wurde Venezuelas Praesident Hugo Chávez frenetisch umjubelt. Nach der Enttaeuschung ueber die mangelnde Radikalitaet Lulas ist er der Star der lateinamerikanischen Linken, und er gefaellt sich in dieser Rolle. Der Mann ist allerdings tatsaechlich gut, macht unzaehlige pragmatische Vorschlaege (etwa fuer einen lateinamerikanischen Fernsehkanal als Gegengewicht zu den Konzernmedien) und hat ein gutes Gespuer fuer Zusammenhaenge. Und sein Auftreten ist wesentlich weniger machohaft als noch vor zwei Jahren.

    Chávez hat es allerdings auch leichter als Lula: Die venezolanischen Erdoelreserven, von denen auch die USA abhaengen, geben ihm einen Handlungsspielraum, den er geschickt ausnuetzt, um soziale Fragen wie Landreform, Alphabetisierung und Gesundheitsversorgung voranzutreiben.

  • Weltsozialforum

    Das Schlimme an solchen Veranstaltungen ist meistens, dass sie schon wieder zu Ende sind, wenn ich grade bemerkt habe dass sie begonnen haben. Viel zu viele Leute, viel zu viel Vielfalt, viel zu wenig Zeit.

    Rund 200.000 Menschen demonstrieren und diskutieren hier in Porto Alegre fuer (Freiheit, Vielfalt, Gleichberechtigung, Solidaritaet) und gegen (Imperialismus, Sexismus, Rassismus, Ausbeutung, Privatisierung) alles andereweltmoegliche. Auch Praesident Lula schneit vorbei, vor zwei Jahren wurde er hier noch umjubelt. Heute reagieren die ForumsteilnehmerInnen kuehl bis ablehnend. Sie werfen ihm vor, seine Ideale den neoliberalen Sachzwaengen untergeordnet zu haben.

    Vielleicht muss man das, wenn man „an der Macht“ ist. Vielleicht waere es besser, dafuer zu kaempfen, dass niemand an der Macht ist. Veranstaltungen wie das Weltsozialforum sollen es ja ermoeglichen, dass sich jeder und jede selbst repraesentieren kann. Das gelingt nur teilweise. Auf den Diskussionspodien sprechen grossteils weisse Maenner des gutgebildeten Mittelstandes darueber, wie man Armut und Elend bekaempfen soll. Arme und Elende sprechen dort nicht, Frauen und Marginalisierte sind unterrepraesentiert.

    Eine Freundin aus Rio, die in der Favela lebt, sagte gestern zu mir, frustriert: „Ich komm mir so dumm vor, weil hier so viele gescheite Leute so gescheite Sachen sagen. Aber wenn diese Leute dann vom Kampf reden moechte ich aufstehen und sie fragen, ob sie wissen was kaempfen heisst. Ich wuerde sie gerne fragen, warum sie uns nicht zuhoeren, wir wissen naemlich was kaempfen heisst, wir kaempfen jeden Tag ums Ueberleben.“

  • Grüße aus der Heimat

    Gestern hat die Drogenfraktion Amigos dos Amigos nach vierstündigem Kampf Rios Favela Vidigal erobert. Die Polizei fand am Morgen nur zerschossene Häuserfronten vor. Und jede Menge Granaten – made in Austria. Gut für die österreichische Wirtschaft, schlecht für die Mutter, die über der zerfetzten Leiche ihres Kindes zusammenbricht.

    Österreich führt indes eine Asyldebatte. Die Regierung will das Land aus dem „Würgegriff der Fremden“ befreien, diese in „Sicherungshaft“ nehmen und dergleichen Nazisprech.

    Nüchtern betrachtet geht es längst nicht mehr um die fehlende demokratische Moral einer faschistoiden Elite von Strasser über Berslusconi und Schily bis Bush. Auch nicht um den Prozentsatz von Habenichtsen in der Kriminalitätsstatistik. Die Eliten versuchen mit aller Macht den Krieg, den sie selbst gegen die Weltbevölkerungsmehrheit führen, vor der Haustüre zu halten. Das wird nicht gelingen, weil die Armen zwar immer ärmer, aber auch immer mehr und immer mobiler werden. Die mit Gewalt verdrängte Armut wird mit Gewalt eindringen. Und dann können sich Österreich & Co. ihre Granaten in den eigenen Arsch schieben.

  • My neighborhood

    ich les grad das sehr nette buch „aschermittwoch“ des sehr netten ethan hawke, als ich direkt vor meinem fenster zwei schüsse höre. schießereien hört man hier dauernd, aber normalerweise sind die weiter weg. ich steck also die nase aus dem fenster: die luft ist rein (damit das auch einmal gesagt ist). ich sehe einen mann den abhang runterrennen, und oben auf der straße leute. ich geh raus.

    vor meiner tür liegt ein halbnackter typ am boden, bewacht von polizisten. er zittert am ganzen leib. „er hat einen gringo überfallen.“ der gringo ist ein deutscher tourist, der meine geile aussicht fotografieren wollte. alleine (was man nicht tun sollte). da sind zwei typen auf dem motorrad daher und wollten ihm den rucksack entreißen. er hat sich gewehrt (was man nicht tun sollte), zum glück waren die unbewaffnet und es kommt zum handgemenge, bis ein paar meiner nachbarn sich auf die typen stürzen. einer flüchtet, der andere wird festgehalten. die frau im morgenmantel von tür 101 schießt zweimal in die luft. unter der woche ist sie polizistin, wusst ich gar nicht. dann trifft die polizei ein.

    ich hab die aussage des deutschen fürs protokoll übersetzt und mir gedacht ich hab eh ganz fitte nachbarn.

  • 12 horas

    ich leide an einer in tropischen regionen fatalen krankheit: ich habe pünktlichkeit. in brasilien pünktlich zu sein ist nicht nur sinnlos, sondern unhöflich. wenn dich zum beispiel jemand für neun uhr einlädt und du kommst vor elf, dann ist das schlicht und einfach aufdringlich. verkompliziert wird die sache dadurch, dass kinos, flüge, busreisen und andere ereignisse oft pünklich beginnen. und oft nicht. nur bei konzerten kann man sich darauf verlassen, dass sie später anfangen.
    private termine wiederum folgen dem spiel der freien kräfte. seit einiger zeit interessiere ich mich für eine frau (um ehrlich zu sein: ich interessiere mich für relativ viele frauen, aber für diese besonders). für samstag hatte ich sie zum mittagessen eingeladen. sie versprach um 10 uhr vormittags nochmal anzurufen um mir ihre ankunftszeit mitzuteilen.
    um zwölf uhr mittag rufe ich ihre mobilbox an.
    um ein uhr erreiche ich sie persönlich. sie sagt, dass sich das mit dem mittagessen nicht ausgehen wird, aber wir könnten uns um drei bei einer super veranstaltung treffen. um fünf vor drei ruft sie an, dass sie noch schnell den text fertigschreibt und dann halt einfach nachkommt.
    die veranstaltung beginnt um vier und ist super. nach dem ende ruf ich an und erzähl ihr dass es super war.
    sie schlägt vor, dass wir ein bierchen trinken könnten, so um halb elf.
    um fünf vor halb elf – ich hab mich extra bemüht es ein bisschen knapp werden zu lassen – stehe ich an der bushaltestelle. um eins vor halb elf überlege ich, ein taxi zu nehmen. ich halte durch. um zehn nach halb elf betrete ich das lokal, im kopf bereits die fertige entschuldigung für meine verspätung.
    um elf habe ich das erste bier getrunken.
    um halb zwölf das zweite.
    ich ruf an.
    ich rede gerne mit ihrer mobilbox, ich könnte es hunderttausendmal hören wie sie ihren namen ausspricht!
    um zehn nach halb zwölf ruft sie an: „ich bin gleich da“.
    ich könnte sauer sein. ich habe gelernt sauer zu sein wenn einen wer sitzen lässt. nicht sauer zu sein, habe ich gelernt, würde bedeuten ein weichei zu sein.
    ich entscheide mich für die weichei-variante. ich sitze glücklich bei meinem dritten bier und beobachte das leben rund um mich herum. in so einer bar gibts immer jede menge leben, kinder, die kaugummis verkaufen, zahnlos grinsende herren, lächerliche machojungs und viele sehr super aussehende frauen. was will man mehr?
    kurz nach mitternacht kam sie. sie hat noch ihrem vater zum geburtstag gratuliert, auf dem weg einen freund getroffen mit dem sie lange nicht gequatscht hat und dann der verkehr und so. ich hab ihr erzählt wie sich ein europäer so fühlt wenn er wartet. es wurde ein wunderbarer abend.

  • Buddha begegnet

    Und weil mir fad war bin ich heute mit der strassenbahn in den urwald gefahren. Die Floresta da Tijuca beginnt ja nur zehn minuten von hier, man hat dort eine gute aussicht, kann quellwasser trinken und sieht unter baumriesen begrabene villen aus der steinzeit, so wie im Dschungelbuch.

    Dann war da ein schild mit der aufschrift „buddhistischer tempel“ vor einer schmalen stiege, die auf einen steilen berg fuehrte. Bin ich natuerlich rauf, hunderte stufen emporspringend. Die stiege wurde von einer schwarzen katze bewacht und fuehrte in einen wald aus riesigen bambusbaeumen, in dem kleine affen ihren schabernack trieben. Dahinter erstreckte sich eine lichtung, von steinernen loewen umrandet, an deren ende ein einfaches haus stand. Ich trat durch eine offene tuer, die geradewegs in die kueche fuehrte. Der moench, der dort seinen dienst tat, wies mir den weg zum abt des klosters.

    Dieser war ein alter mann mit halb erblindeten augen. Er sass in einer winzigen kammer vor einem tisch, der mit nylonsackerln und schriftstuecken uebersaet war. An der wand hing ein bild von Charlie Chaplin und eine auf neun stehengebliebene uhr.

    Der alte abt hiess mich auf einem stuhl platz nehmen und erklaerte mir dann das leben. Er sagte mir, dass ich ein idiot sei und sonst noch allerlei vernuenftige dinge. So verging stunde um stunde, wir lachten viel und ich vergass meine dringenden termine. Der weise mann redete, fragte mich dies und das und ich gab ihm recht, bis er mich schliesslich mit glueckwuenschen und guten ratschlaegen entliess. Ich huepfte ueber die lange stiege und fuehlte mich ganz erleuchtet.

  • clows wird clown

    seit ich vor 15 jahren „ansichten eines clowns“ von heinrich böll dreimal hintereinander gelesen hab, schreibe ich mich manchmal clows. dann kam das internet. ich las nicht mehr viele bücher und schrieb dafür ernste und wichtige dinge. und clows klingt nicht so ernst und wichtig. dachte ich.

    vor ein paar wochen besuchte ich in rio ein stück von marcio libar: „o pregoeiro“ (der marktschreier), in dem er das wesen des palhaço erklärt: „der clown ist der, der fällt. der irrt. der verliert. und verlieren tut jeder. wir verlieren vater, mutter, geliebte, freunde, haare, alles. und der clown, nachdem er alles verloren hat, hat nichts mehr zu verlieren. und wenn er nichts mehr zu verlieren hat, kann er machen, was er will.“ und was will er? geliebt werden, wie alle. der palhaço gibt sich der lächerlichkeit preis, nur um vom publikum geliebt zu werden. marcio brauchte nicht einmal eine halbe stunde, bis ich ihn liebte. dann wollte ich clown werden.

    vergangenes wochenende führte marcio eine gruppe von 18 idiotinnen in die noble kunst des clownseins ein. in zwei langen tagen räumte er jede/n einzelne/n mit seinen bzw. ihren eitelkeiten und dummheiten ab wie einen christbaum. erst klein und schwach wie kinder konnten wir spielen wie kinder. wer menschen zum lachen und zum weinen bringen – und geliebt werden – will, dessen lachen und dessen tränen müssen echt sein.

    nach einer reihe von spielereien, peinigungen und exerzitien ging es am ende darum, von zirkusdirektor „messiê“ marcio unter vertrag genommen zu werden. jede/r bekam eine rolle zugewiesen und sollte als mensch überzeugen. das dauerte bei manchen zehn sekunden und im schlimmsten fall zwei stunden. einer, ein professioneller schauspieler und humorist, schaffte es gar nicht – er war nicht in der lage, seine masken fallen zu lassen.

    meine aufgabe war es, den macho zu machen. ich betrat die bühne und hatte vielleicht fünf worte gesagt, bis alle in tränen ausbrachen – vor lachen. ich wurde sofort unter vertrag genommen. ich war extrem glücklich. das glück trat mir aus den augen, floss durch den raum. und plötzlich fragt die süßeste im publikum den messiê unter tränen, ob sie auf die bühne gehen und mich umarmen dürfe. das war gegen alle regeln. ich sagte, ich hätt aber auch gern dass sie das tut und der messiê in seiner unendlichen großzügigkeit ließ gewähren. und dann kamen sie alle daher und umarmten mich, weil sie mich so fofo fanden. eben. und deshalb werde ich jetzt clown.

  • Ganz normaler Überfall

    jetzt also auch das. auf dem weg in die fundição progresso, wo immer gute kultur ist, bin ich allein ein dunkles stück straße entlang. was man in rio nicht machen soll. als die vier jungs auf mich zukommen hab ich überlegt „umdrehen?“ aber da wars schon zu spät. „wie spät?“, haben sie gefragt. mit ausländischem akzent fühlt man sich dann gleich noch einmal so schwach. darauf sie: „halt’s maul. gib alles her.“

    nach dem mord am samstag war ich nicht zu scherzen aufgelegt und die jungs machten auch nicht den eindruck. nervös waren wir alle fünf. hab mir also die hosentaschen ausräumen lassen, ca. 45 reais und der veranstaltungsflyer. zum glück hab ich tiefergelegte hosen mit nebenfächern, wo ausweis und schlüssel drin waren. es ging alles schnell und unbürokratisch und weg waren sie. mein erster gedanke: wenn sie mich freundlich darum gebeten hätten, hätte ich ihnen keine 45 reais gegeben. was ihr verhalten irgendwie rechtfertigt.

    das scheißgefühl kam erst nachher. und niemand der’s mit mir teilt. in der fundição haben sie mich auf den eintritt eingeladen, „ah so, du bist überfallen worden.“ niemand fragt wer wie wo warum und ob ich mich gefürchtet hab. passiert jedem mal, enjoy the show. kann ich nicht … nein, kann ich nicht.