Stellen Sie sich vor, Ihr Nachbar würde unter dem Vorwand, die Blumen zu gießen, Ihre Wohnung leer räumen und alles was Sie besitzen zu sich schaffen. Würden Sie in Ihrer leeren Wohnung bleiben und hungern, während in der Nebenwohnung rauschende Feste gefeiert werden – mit Ihren Vorräten?
Ein Großteil jener Regionen, die wir als Entwicklungsländer bezeichnen, ist wesentlich reicher an landwirtschaftlichen Ressourcen, Bodenschätzen und Arbeitskraft als die sogenannten entwickelten Länder. Doch seit den antiken Eroberungszügen durch Phönizier, Griechen und Römer und vor allem ab der europäischen Kolonialisierung Lateinamerikas, Afrikas und Asiens vom 15. bis zum 20. Jahrhundert gelang und gelingt es militärisch und machtpolitisch überlegenen Staaten bis heute, diese Ressourcen für sich zu beanspruchen.
Vor allem der immense Transfer an Rohstoffen und Arbeitskraft aus den ehemaligen Kolonien wirkt bis heute nach. So wurden etwa von 1441 bis 1880 geschätzte 60 Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen von europäischen Kolonialherren als Sklaven verschleppt. Die technologische Überlegenheit der Industrieländer, aber auch große Teile ihres kulturellen Erbes beruhen auf der Ausbeutung der Kolonien. Eine „Wiedergutmachung“ dieses Jahrhunderte dauernden Raubzuges, der damit verbundenen Völkermorde und der oft für Generationen zerstörten Infrastrukturen und gesellschaftlichen Systeme gab es nirgends.
Im Gegenteil: Noch heute müssen etwa die 50 Millionen Kongolesinnen und Kongolesen Schulden zurückzahlen, die die belgischen Kolonialherren bis 1960 anhäuften. 80 Prozent von ihnen sind unmittelbar von Hunger bedroht.
Nach dem Ende der Kolonialisierung unterstützten westliche Industrieländer und Konzerne korrupte Regime wie das von Mobutu Sese Seko im Kongo und tauschten Milliardenkredite gegen Öl und andere Rohstoffe.
So leben etwa rund 70 Prozent der EinwohnerInnen Nigerias unterhalb der Armutsgrenze, obwohl das Land der neuntgrößte Erdölexporteur der Welt ist. Shell hat in Nigeria Öl im Wert von rund 35 Milliarden Euro aus dem Boden geholt und Umweltschäden ebenfalls in Milliardenhöhe verursacht. Ohne Gegenleistung; im Gegenteil: Die korrupten Ölgeschäfte verhinderten hier wie in Dutzenden anderen rohstoffreichen Ländern das Entstehen von Demokratie und Sozialstaat.
Auch die österreichische Mineralölgesellschaft OMV war in einen grausamen Bürgerkrieg in Südsudan involviert. Nach massiver Kritik durch Menschenrechtsgruppen verkaufte der Konzern seine Lizenzen mit rund 70 Millionen Euro Gewinn – auf dem Rücken der sudanesischen Bevölkerung.
Wer aus dem Sudan, Kongo oder Nigeria nach Österreich flüchtet, erhält in der Regel kein Asyl.
Asylsuchende sind in ihren Heimatländern nicht nur aufgrund politischer Gewalt oder kriegerischer Auseinandersetzungen bedroht. Sondern auch, weil einer Mehrheit der Weltbevölkerung sprichwörtlich die Lebensgrundlagen aus der Wohnung getragen und in den reichen Ländern gebunkert werden.
Allein die Zinszahlungen der verschuldeten Länder an die Industrieländer betrug 1999 in Summe 125 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Die gesamte weltweite Entwicklungshilfe beläuft sich auf rund 56 Milliarden Dollar jährlich.
Dazu kommen die Folgen einer neokolonialen Welthandelspolitik: Während von den ärmeren Ländern die totale Liberalisierung ihrer Märkte verlangt wird, setzt man im reichen Norden auf Protektionismus. Allein die Exportsubventionen der EU, die in erster Linie den Agrarkonzernen zugute kommen, kosten die ärmeren Länder rund 300 Milliarden Dollar jährlich, sagt Mike Moore, der ehemalige Chef der Welthandelsorganisation WTO. Das ist das Sechsfache der weltweiten Entwicklungshilfe.
Erdöl, wertvolle Metalle, Tropenhölzer, Kaffee, Kakao, Südfrüchte und Arbeitskraft, egal ob für das Nähen unserer Sportschuhe oder das Zusammenbasteln unserer Computerchips – all das wandert ohne entsprechende Gegenleistungen von Süden nach Norden.
Manchmal folgen Menschen nach. Sie folgen dem Kapital und den Rohstoffen, also ihren Lebensgrundlagen. Ein Großteil dieser „Wirtschaftsflüchtlinge“ wird an den Grenzen der reichen Industrieländer wieder abgewiesen, in Schubhaft gesteckt oder in die Illegalität gezwungen.
Diejenigen, die es schaffen, hier Fuß zu fassen, spielen für die Volkswirtschaften ihrer Herkunftsländer eine bedeutende Rolle: Viele MigrantInnen schicken ihren Familien zuhause Geld. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds lagen diese Unterstützungen im Jahr 2003 bei 93 Milliarden Dollar – also fast das Doppelte der weltweiten Entwicklungshilfe. Brunson McKinley, Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration meint sogar, „der wahre Betrag könnte zwei- oder dreimal so hoch sein, wenn man die informellen Kanäle berücksichtigt.“ Er spricht deshalb von einer „win-win-Situation für alle Beteiligten“. In Ländern wie Ländern wie Haiti, Jordanien und Somalia machen die Rücküberweisungen bereits mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus.
Das ist, wie wenn sich eines Ihrer Familienmitglieder unter die Festgäste in der Nachbarwohnung mischen und Ihnen ein paar Leckereien vom Buffet – das ja immerhin aus Ihren Vorräten besteht – mitbringen würde.