Die Via Ápia ist die einzige befahrbare Straße hier. Von ihr führen schattige Gässchen und steile Stiegen ins Innere eines organischen Gewebes aus Beton und Ziegelsteinen. Ein Haus wächst aus dem anderen, und alle wachsen sie den Berg hinauf, legen sich wie Flechten an den Felsen. Das ist keine Stadt, das ist ein Lebewesen, und es ist die größte Favela Lateinamerikas: Rocinha.
Wir fahren mit dem Motorrad-Taxi auf den Hügel und genießen den Ausblick auf einen der schönsten Strände Rios. Kein Vergleich zu den elenden Wellblech-Slums von Nairobi oder Johannesburg. Zwischen stabilen Häusern wuchert ein Netz aus Strom- und Telefonkabeln – jeder legt sich seine Leitung, indem er die zentralen Verteiler anzapft. Es gibt Geschäfte, Kirchen, Restaurants und sogar eine Bank.
Doch seit dem 17. Jänner herrscht wieder Krieg in Rocinha. Eduíno Eustáquio de Araújo, genannt Dudu, ist aus dem Gefängnis geflüchtet. Er führte bis 1995 das Comando Vermelho an, das hier den Drogenhandel beherrscht, und er will zurück an die Macht. Die hat aber mittlerweile Luciano „Lulu“ Barbosa da Silva inne. Nacht für Nacht ertönen nun die Maschinengewehrsalven der Anhänger von Dudu und Lulu.
Vor dem Restaurant, in dem wir gerade sitzen, hängen ein paar Kids herum und kiffen. Im Hosenbund ihrer Badeshorts haben sie griffbereit das Handy stecken – und gleich daneben einen Revolver. In ganz Rio de Janeiro ziehen rund 20.000 Jugendliche unter 16 Jahren mit Faustfeuerwaffen herum. „Das sind Jungs, die mit zehn Jahren schon Koks schnüffeln“, sagt Marina Magessi von der Zivilpolizei. „Ihr Vokabular besteht aus kaum mehr als 50 Wörtern, aber einige von ihnen haben schon zwanzig oder mehr Menschen getötet.“
Es geht um viel Geld auf den Hügeln der Stadt. Allein in Rocinha werden mit dem Verkauf von Kokain und Marihuana drei Millionen Euro Gewinn gemacht – pro Woche. Rund vier Tonnen Kokain verbraucht Rio im Monat. Und täglich sterben Menschen im Kugelhagel der Bandenkriege.
Doch die meisten Toten gehen auf das Konto der Militärpolizei. 1195 Menschen wurden in Rio 2003 nach offiziellen Angaben von Polizisten getötet. Das sind fast hundert im Monat – die meisten von ihnen haben mit dem Drogenhandel nichts zu tun. Sie seien Opfer „verirrter Kugeln“, wie es heißt.
Sebastião Leandro, dessen Sohn von Polizisten getötet wurde, glaubt nicht an „verirrte Kugeln“: „Die Polizei betrachtet alle Bewohner des Hügels als Freiwild.“ So erlag etwa am 9. Februar die 33jährige Regina Célia Rodrigues de Moura auf dem Heimweg von der Kirche einem Kopfschuss. Zeugen berichten, dass gegen 20 Uhr Militärpolizisten in Ninja-ähnlichen Uniformen auftauchten und ziellos um sich schossen. Ein Restaurantbesitzer zeigt auf die Einschusslöcher in der Wand: „Es war furchtbar. Die Gäste mussten sich auf den Boden werfen oder im WC verstecken.“
Der Soziologie-Professor Ignácio Cano glaubt, dass die Polizei selbst das größere Problem darstelle, weil das wilde Herausschießen einzelner Dealer nur neue Bandenkriege provoziere. „Doch zum Unterschied von den Drogenbossen leben die Polizisten mit der Sicherheit, dass sie ohnehin nicht bestraft werden.“
Marcela, die seit 56 Jahren in Rocinha lebt, möchte nun gemeinsam mit anderen Eltern Polizeiaktionen mit der Videokamera filmen. Ihr Sohn wurde von Polizisten erschossen – er war 14 Jahre alt und taubstumm. Seit ihrem Engagement erhält sie selbst Morddrohungen. „Die glauben, mir Angst machen zu können. Doch eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, fürchtet den Tod nicht mehr.“