Im Südosten Malis lebt das Volk der Dogon wie vor Hunderten von Jahren. Ihr Leben ist geprägt von der mystischen Gegenwart der Ahnen, deren Geist aus den Sandsteinhöhlen der Falaise von Bandiagara atmet.
Amma, der einzige Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, schuf auch Sonne und Mond. Die Sonne machte Amma aus weißem Ton mit Spiralen aus rotem Kupfer. Die hat er erhitzt, und davon gibt die Sonne ihr Licht. Für den Mond nahm Amma weißes Kupfer, denn das strahlt nicht so hell. Als Amma später die Menschen machte, schuf er die einen bei Sonnenschein. Sie wurden schwarz, Kinder des Lichts. Die Weißen aber entstanden bei Mondschein. Darum sind sie bleich wie Larven.
Nein, ich glaube nicht an Geister: Geister. Gibt. Es. Nicht. Auch nicht hier, im Land der Dogon. Ich ziehe den Schlafsack über den Kopf, drehe mich um. Drehe mich noch mal um: Schien nicht gerade noch der Mond über dem Hügel dort, auf dem gerade noch KEIN so komisches Ding gestanden ist, das aussieht wie ein Schädel auf einer Stange mit Tüchern dran? Und hat sich das jetzt bewegt oder nicht? Und wo ist eigentlich das Auto? Und wo sind, a propos, die andern?
Ich wollte ja gleich woanders schlafen. In Bandiagara. Im Hotel. Jedenfalls nicht hier, in Spuckweite der Abbruchkante – dreimal umdrehen und du liegst dreihundert Meter tiefer. Und in Spukweite der Ahnen, die im weichen Sandstein der Falaise von Bandiagara ihre letzte Ruhestatt gefunden haben.
Aber die andern finden das hier romantisch.
Zugegeben: es ist nicht ohne, wenn das Land plötzlich abbricht und 300 Meter weiter unten einfach weitergeht, als wäre nichts gewesen. 140 Kilometer lang verläuft der Bruch über der Gondo-Ebene im Südosten Malis bis an die Grenze von Burkina Faso. Bis vor fünfhundert Jahren lebten hier die kleingewachsenen, rothäutigen Telem. Sie müssen wohl auch Flügel gehabt haben, denn sie wohnten in den Sandsteinhöhlen weit oben in der Wand, die aussehen wie Schwalbennester.
Im 15. Jahrhundert kamen die Dogon, die vor der Dürre im Norden und vor den Reitern der Mandé flüchteten, deren Leibeigene sie vermutlich gewesen waren. Heute leben fast 300.000 von ihnen in den rund vierhundert Dörfern, die sich wie eine Sandsteinkruste an die Falaise heften. Die Wohnhöhlen in den Felsen dienen nun als Gräber für ihre Toten und zur Aufbewahrung der heiligen Masken und Kultfiguren. Die Telem, die einst hier gewohnt haben, gibt nicht mehr, doch ihre Ahnen irren noch immer über die Hochebene.
Wie gesagt, bis jetzt habe ich nicht an Geister geglaubt. Bis jetzt. Es ist verdammt ruhig über den Gräbern der Falaise.
Am Nachmittag waren wir noch in Mopti, der lebhaften Handelsstadt am Zusammenfluss von Niger und Bani: Lärmende Marktleute, buntbemalte Pirogen und Pinassen, wie die Boote der Flussfischer heißen. Blaugewandete Tuareg verkauften schwere Salzblöcke aus der Sahara. Wunderheiler boten Fetische aus Affenschrumpfköpfen, Schlangenhäuten und toten Vögeln feil. An unsere Fersen hefteten sich Souvenirhändler und Touristenführer, die uns in Daueroffensive am Puls der Stadt hielten.
Und hier auf einmal diese Friedhofsruhe.
Wie geht’s, Kuli?
„Ça va, les toubab? Ça va, les bics?“ Eine lärmende Kinderschar kommt uns entgegen, als wir am frühen Morgen das erste Dorf erreichen. Nombori. Wir sind gleich nach Sonnenaufgang die enge Straße zur Gondoebene hinuntergefahren. Die vielleicht hundert Lehmhäuser und Hirsespeicher waren von der Ferne fast nicht auszumachen, so sehr gleichen sie dem Felsen dahinter.
„Toubab“ sind wir, die Europäer. Und „bic“ ist der Name des Kugelschreibers, den wir schenken sollen. Das erste Wort kommt vom arabischen „tubib“ für „Doktor“, und mithilfe der Kulis sollen wohl auch die Kinder der Dogon Gelehrte werden. So haben die reichen Touristen und ihre Vorgänger, die Kolonialherren, mit ihren kleinen Geschenken die Grenze zwischen Sein, Haben und Geben verschwinden lassen: „Wie geht’s, Weißer, wie geht’s, Kugelschreiber“.
Nie haben wir so viele junge Menschen gesehen wie in Mali, und nie so wenige Alte. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt hier bei 47 Jahren. Über den Sonnenkindern liegen die Schatten von Armut und mangelnder medizinischer Versorgung.
Die Kids geleiten uns zu Ousmane Guindo, der sich uns als Führer erbötig macht. Wir willigen gerne ein, denn nur Einheimische kennen die zahllosen „lieux sacrés“, die heiligen Stellen. Die zu betreten würde die Ahnen erzürnen – und in Folge dessen auch die Dorfbewohner.
Wie es die Sitte verlangt, machen wir zuallererst dem chef de village unsere Aufwartung, um den Segen für unseren Besuch zu erbitten. Den Dorfälteste empfängt uns im Hof seiner Lehmhütte. Wir haben als Gastgeschenk Kolanüsse mitgebracht, die wir schon am Markt in Mopti gekauft haben: Drei für ihn und vier für die Frau, so will es die Tradition. Die roten, kastaniengroßen Nüsse sind ekelhaft bitter und haben angeblich eine berauschende Wirkung. Doch außer den lokalanästhetischen Effekten einer Zahnarztspritze konnte im Selbstversuch allenfalls die Wirkung von zwei Tassen Kaffee protokolliert werden.
Nun beginnt das Begrüßungszeremoniell, das in allen Sprachen Malis, egal ob Französisch, Bambara, Mozo, Peul oder Moré ähnlich verläuft, auf Dogon aber den akustischen Effekt eines rasanten Pingpongspiels hat. Zunächst wird wechselseitig das Wohlbefinden erkundet, und zwar in einem umfassenden Sinn: „Wie geht’s? Und der Familie? Den Eltern? Den Kindern? Und der Arbeit? Und der Reise? Und den Tieren?“ (und wessen Befindlichkeit auch immer sonst noch erwähnenswert sein könnte).
Danach heißt uns der Dorfchef willkommen und erklärt sich vom Glück beschenkt und durch unseren Besuch aufs Äußerste geehrt. Worauf ich nicht anstehe, mich meinerseits glücklich zu schätzen, nicht zu reden von der Ehre, hier in seinem Hause gegenwärtig sein zu dürfen. Was er wiederum zum Anlass nimmt, mich, meine Freunde und auch mein ganzes Land im Namen seines Dorfes und aller hier rechtschaffen lebenden Menschen auf das Ehrerbietigste zu grüßen und mir ein langes Leben zu wünschen. An diesem Punkt lasse ich meine Hemmungen fallen und nehme mir die Freiheit heraus, auch namens meines eigenen Landes und des besseren Teiles seiner Bevölkerung ihn, dies gastfreundliche Haus und insbesondere die gesamte Gegend mit all ihren hervorragenden Erscheinungen mit den besten Wünschen und Segnungen zu bedenken.
Als all dies gesprochen und durch unseren Führer übersetzt ist, nehmen wir Platz und der Dorfchef berichtet uns die Lage: Es seien ihm, lässt er uns ausrichten, in letzter Zeit mehrere Stück Vieh abhanden gekommen, und er habe das Nomadenvolk der Peul im dringenden Verdacht des Diebstahls. Er müsse uns daher warnen und raten, unsererseits auf unser Vieh besonders acht zu geben, weil diesen, den Peul, durchaus zuzutrauen sei, dass sie sich auch an unserer Herde vergriffen.
Wir geloben allerhöchste Achtsamkeit und machen uns nach vergleichsweise kompakt vorgetragenen Worten des Abschieds nicht ohne weitere Segnungen auf den Weg.
Ousmane führt uns an die höchste Stelle des Ortes. Dort ist, auf halber Höhe im Felsen, die Zuflucht des Hogon, der als direkte Verbindung zum einzigen Gott Amma in den Felswaben der Telem lebte. Sobald ein Hogon gewählt ist, wird er mit Tauen aus Baumrinde hinaufgezogen und bleibt dort für den Rest seines Lebens. Nur die Alten suchen ihn manchmal auf, um ihn um Rat zu bitten. Ein Mädchen aus dem Dorf kocht für ihn, und jeden Morgen leckt ihn eine Schlange sauber. An dem Tag, an dem die Schlange nicht mehr kommt, weiß er, dass er sterben muss. Auch sein Vater, erzählt Ousmane, war ein Hogon. Doch der letzte dieser Dogonführer sei vor drei Jahren zu den Ahnen gegangen und ein Nachfolger nicht in Sicht.
Der Geist der Dogon
Das nächste Dorf heißt Tereli. Auch hier werden wir von einer Horde Kinder empfangen, die uns zu einem Guide begleiten. Moussa Saye versteht sich auf das Geschäft mit den Touristen, von denen in der Trockenzeit alle Tage ein Grüppchen vorbeikommt. Er hat ein Schild auf seiner Lehmhütte angebracht, auf dem „Restaurant Hotel“ steht, und in der Tat gibt es alles für das Wohl des Gastes: Wir bekommen Hirsebrei mit Huhn und dazu Coca Cola und vor dem Essen einem Kübel voll Brunnenwasser, mit dem wir uns in einem Verschlag aus Ziegelsteinen duschen können.
Zum Schlafen richtet uns Moussa auf dem Dach ein paar Matratzen her. Vorher aber gibt es noch etwas zu feiern: Es ist der Tag des Hirsebierfestes. Wir wandern in der Dunkelheit mit Taschenlampen von Haus zu Haus und werden überall mit einer großen Kalebasse der trüben, säuerlichen Flüssigkeit empfangen, die in der Runde weitergereicht wird. Das Getränk wird in großen Bottichen mithilfe von Fasern des Affenbrotbaumes gegoren und schmeckt – wie Radler.
In den Innenhöfen wird gelacht und lautstark diskutiert. Manchmal, wenn die Unterhaltung besonders in Fahrt kommt, bitte ich Moussa um Übersetzung: es geht ausschließlich um religiöse Inhalte, um Fragen der Ahnenbeschwörung oder notwendige Tieropfer, mit deren Hilfe Segnung erbeten oder Unglück ferngehalten werden soll. Moussa sagt, wir hätten den Geist der Dogon, da wir die heiligen Orte geachtet hätten. Für manche Touristen sei das keine Selbstverständlichkeit, und einige der Dogondörfer wie Sanga oder Banani verwandeln sich zusehends in seelenlose Freilichtmuseen, in denen Maskentänze und Rituale auf Bestellung stattfinden.
Der Alkoholgehalt des Hirsebiers war nicht sehr hoch, dennoch ist nach Dutzenden tiefen Zügen aus der Kalebasse unsere Trittsicherheit in den engen und steinigen Gassen merklich gesunken. Den letzten Schluck nehmen wir mit Moussas Familie, bevor wir die aus einem Baumstamm geschnittene Leiter zu unserer Schlafterrasse erklimmen.
Der Himmel über der Falaise von Bandiagara ist sternenklar. Im Dorf schreien tausend Hähne. Vom Felsen her mischen sich ein paar Stimmen dazu. Das werden wohl die Ahnen sein. Oja, ich habe gut geschlafen, danke der Nachfrage.